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Offener Brief an die Landesregierung Sachsen-Anhalts, an den Landesverband Sachsen-Anhalt der SPD und an Bündnis 90/Die Grünen in Sachsen-Anhalt

04. November 1994 | Mobilität, Naturschutz, Nachhaltigkeit

Eisenach. Mit Zorn und Unverständnis haben wir die Zustimmung der Landesregierung Sachsen-Anhalts und der sie tragenden Parteien SPD und Bündnis 90/Grüne für das Projekt einer sogenannten Südharzautobahn A 82 zur Kenntnis nehmen müssen.

Diese Landesregierung ist mit dem Anspruch angetreten, einen neuen Politikstil zu pflegen und eine Vielzahl von gesellschaftlichen Reformen einzuleiten. Dazu zählen dringend notwendige soziale und ökologische Maßnahmen. Dieses Programm der Landesregierung hat über die Grenzen Sachsen-Anhalts hinaus Zustimmung und Sympathie gefunden. Dies gilt auch für die in der Koalitionsvereinbarung formulierten verkehrspolitischen Ziele. Angesichts der unabweisbaren ökologischen Schäden, die eine verfehlte Verkehrspolitik bereits jetzt verursacht, hat der BUND Thüringen die dabei getroffene Aussage begrüßt, daß im Hinblick auf das weitere Wachstum des motorisierten Individualverkehres "eine Trendwende mittel-bis langfristig herbeizuführen ist". Die Feststellung der Koalition, sich gegen das Projekt einer "Südharzautobahn" BAB 82 auszusprechen, war und ist auch vor diesem Hintergrund nur vernünftig und folgerichtig.

Umso unerklärlicher und enttäuschender ist für uns, daß in so kurzer Zeit und auf diese Weise ein derart zentraler und für die politische Glaubwürdigkeit dieser Regierungskoalition wesentlicher Punkt aufgegeben wurde. Wir verstehen nicht, daß die Landesregierung und die sie tragenden Parteien in Sachsen-Anhalt nunmehr dem Bau dieser Autobahn zustimmen, obwohl sie die vielen guten Gründe gegen dieses ökologisch unverantwortliche, wirtschaftspolitisch schädliche und verkehrlich unsinnige Großprojekt sehr wohl kennen und nicht widerlegt haben.

Wir fragen Sie: Wie soll eine Trendwende im Verkehr "mittel-und langfristig" erreicht werden, wenn jetzt mit Zustimmung dieser Landesregierung die falschen Entscheidungen für die Verkehrsinfrastruktur "des Jahres 2000" gefällt werden? Wie soll die dringend notwendige Reduzierung des Verkehrsmengenwachstums erreicht werden, wenn jetzt mit Zustimmung dieser Landesregierung eine Autobahn gebaut werden soll, die weder durch die derzeitigen noch durch die zukünftigen Verkehrsströme in der Region legitimiert werden kann? Woher sollen die finanziellen Mittel für eine moderne und ökologische Verkehrspolitik kommen, wenn jetzt mit Zustimmung dieser Landesregierung Milliarden für eine Transitautobahn ausgegeben und damit die falschen Strukturen zementiert werden? Wie soll auch nur die versprochene Entlastung der Menschen entlang der B 80 erreicht werden, wenn jetzt mit Zustimmung dieser Landesregierung anstelle der umweltgerechten und verkehrssicheren Gestaltung der Ortsdurchfahrten und notwendiger Ortsumgehungen eine Autobahn gebaut wird?

Wir sind enttäuscht, daß die Koalition ihre Möglichkeiten nicht genutzt hat, um der unseriösen Propaganda der Autobahnlobby entgegenzutreten. Warum gab es keine Kampagne dieser Landesregierung, um die Bevölkerung über die tatsächlichen Auswirkungen einer solchen Transitautobahn für die Verkehrssituation entlang der B 80, für die wirtschaftliche Entwicklung und im Hinblick auf die zu erwartenden ökologischen Schäden in der betroffenen Region aufzuklären, um so den einseitigen Informationen von DEGES und Bundesverkehrsministerium entgegenzutreten und für die Auffassung der Landesregierung zu werben? Weshalb wurden keine gutachterlichen Stellungnahmen zu den Alternativen eines Autobahnneubaus in Auftrag gegeben, wie dies etwa im Fall der "Thüringer-Wald-Autobahnen" geschehen ist? Warum hat die Landesregierung ihre rechtlichen und politischen Spielräume gegenüber der Bundesregierung; nicht benannt? Warum hat sie zu den Beratungen am Magdeburger "Runden Tisch" nicht Thüringer Bürgerinitiativen und Umweltverbände, wohl aber den als entschiedenen Befürworter der A 82 und vieler weiterer Autobahnprojekte bekannten Thüringer Minister für Wirtschaft und Verkehr hinzugezogen? Aus welchen Gründen hat die Landesregierung in Sachsen-Anhalt sich nicht zu einem gemeinsamen Vorgehen mit der hessischen und der niedersächsischen Landesregierung entschlossen, die bislang beide eine A 82 aus ökologischen und raumordnerischen Überlegungen ablehnen? Wieso wurde mit der endgültigen Entscheidung der Landesregierung nicht einmal bis zum 16. Oktober gewartet, als die Wahlen zum Deutschen Bundestag und zum Thüringer Landtag zumindest die Option auf weitere umwelt- und verkehrspolitische Veränderungen eröffneten?

Der BUND Thüringen führt die Auseinandersetzung um das Projekt einer "Südharzautobahn" bereits seit Jahren. Durch eine Vielzahl von Veranstaltungen in der Region und durch Gespräche mit der betroffenen Bevölkerung wissen wir um die Emotionalität innerhalb dieses Konfliktes. Wir sind uns der Schwierigkeiten einer sachlichen und rationalen Diskussion über die Auswirkungen dieses Projektes und möglicher Alternativen wohl bewußt Wir können jedoch nicht erkennen, daß zumindest die von uns aufgeworfenen Fragen im Rahmen Ihrer Entscheidungsfindung ausreichend bedacht und in die Abwägung für das Projekt eingestellt wurden. Wenn nicht sogar die Ernsthaftigkeit des politischen Willens zum Verzicht auf die A 82 in Frage gestellt werden soll, drängt sich für uns jedenfalls der Eindruck eines dilettantischen Vorgehens bei der Umsetzung des Koalitionsbeschlusses auf.

Auf diese Weise werden auch die von der A 82 betroffenen Menschen, die sich in wachsender Zahl gegen eine unsinnige und menschenverachtende Verkehrspolitik und für intelligente und zukunftsfähige Alternativen engagieren, vor den Kopf gestoßen. Dieses Versagen der Politik wird die Auseinandersetzung um die "Südharzautobahn" voraussichtlich auf die Ebene der Verwaltungsgerichte verlagern. Damit wächst jedoch auch das Mißtrauen gegenüber den Chancen parlamentarische Reformpolitik und unsere Verdrossenheit über Politiker und Politikerinnen
Die Entscheidung der Landesregierung und der sie tragenden Parteien in Sachsen-Anhalt für die A 82 ist aus Sicht des BUND Thüringen keine Lappalie. Sie berührt die Glaubwürdigkeit dieser Koalition, die eine sozialökologischen Reformpolitik auf ihre Fahnen geschrieben hat. Wir können nur hoffen, daß SPD und Bündnis 90/Grüne bei der Umsetzung Ihres weiteren politischen Programms zukünftig planvoller und umsichtiger vorgehen und gegenüber den auch dabei zu erwartenden Widerständen mehr Rückgrat und Durchhaltevermögen beweisen als gegenüber der Autobahnlobby. 

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